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Evidenzbasierte Medizin und Komplementäre Medizin

Eine kurze Anmerkung von Herbert Paukert

Wenn Gesundheit einfach als allgemeines körperliches und seelisches Wohlbefinden eines Menschen definiert wird, dann besteht Krankheit in einem Fehlen von Gesundheit. Die Ursachen für Krankheiten sind verschieden und vielfältig, können aber in vier Hauptgruppen eingeteilt werden:

· durch Unfälle oder Schadstoffe verursachte Verletzungen
· durch Erreger (Bakterien, Viren) bedingte Infektionskrankheiten
· vererbte Krankheiten
· durch psychosoziale Belastungen verursachte Funktionsstörungen

Die höchsten Zielsetzungen der Medizin sind erstens die Erforschung von Krankheiten und zweitens deren Heilung. Die medizinische Forschung stützt sich auf die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) und liefert ein Modell für eine Krankheit. Dieses Modell beschreibt die Symptome und die Ursachen und ist dann die Grundlage für eine entsprechende Heil­behandlung.

Die Richtigkeit eines Modells und die Wirksamkeit einer Heilbehandlung hängen somit vom aktuellen Stand der Wissenschaft ab. Die so genannte Schulmedizin ist dieser Wissenschaftlich­keit verpflichtet und um dieser Verpflichtung nachzukommen, wird einerseits empirische Grund­lagenforschung betrieben, und andererseits werden objektivierbare wissenschaftliche Prüfver­fahren für die Heilmethoden entwickelt. Das sind die Prinzipien einer evidenzbasierten (d.h. nach­weisorientierten) Medizin.

Eine alternative Medizin (Komplementärmedizin) besteht in Modellen und Behandlungen, welche nicht von der Mehrheit der Schulmediziner anerkannt werden, weil sie nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen.

Beispielsweise ist es in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) eine zentrale Modell­vorstellung, dass im menschlichen Körper eine Lebensenergie (QI) in ausgezeichneten Bahnen (Meridiane) fließt. Blockierungen dieses Energieflusses führen oft zu Erkrankungen bestimmter Organe. Durch Reizung spezifischer Punkte auf den Meridianen mit Hilfe von eingestochenen Nadeln (Akupunktur) kann der Energiefluss normalisiert und damit die entsprechende Krankheit geheilt werden.

Dieses Modell kann zwar als literarische Metapher verstanden werden, nicht aber als eine natur­ wissenschaftliche Erkenntnis. Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis für eine eigenständige, von außen kommende, den Körper in bestimmten Bahnen durchfließende Lebensenergie (QI). Im alten China vor 2000 Jahren waren die modernen Einsichten und Erkenntnisse über Anatomie und Physiologie weitgehend unbekannt. Trotzdem entwickelte sich aus dem vorwissenschaftlichen Grundmodell der TCM die Akupunktur als eine erfolgreiche Behandlungsmethode bei der Bekämpfung bestimmter chronischer Schmerzen. Siehe die GERAC-Studien (german acupuncture trials).

Die Geschichte der Naturwissenschaft ist eine Entwicklungsgeschichte von Modellen, welche auf Grund neuer empirischer Erkenntnisse immer wieder abgeändert und verworfen werden, wenn sie den strengen Kriterien empirischer Überprüfbarkeit (Verifizierung) nicht mehr genügen.

Als ein Beispiel sei das Atommodell genannt. So betrachtete der Chemiker John Dalton um 1800 die Atome als unteilbare kugelförmige Materieteilchen, welche für die verschiedenen Grundstoffe (Elemente) verschiedene Massen aufweisen. Die Atome besitzen Ösen und Haken mit deren Hilfe sie sich auf mechanische Weise zu Molekülen verbinden. Aus heutiger Sicht der Quantenphysik und der Orbitalbahnen ist dieses Modell überholt bzw. falsch. Trotzdem hat es gute Dienste geleistet, beispielsweise konnten auf seiner Grundlage bereits stöchiometrische Berechnungen durchgeführt werden.

Ähnlich dem Daltonschen Atommodell ist das spekulative Energiemodell der TCM überholt. Und es besteht kein Grund an überholten, wissenschaftlich nicht verifizierbaren Modellen der alternativen Medizin festzuhalten. Vor Allem dann, wenn eine moderne und kritische Natur­wissen­­­schaft bessere und wirkungsvollere Modelle entwickelt hat.

Aber vielleicht gibt es doch einen Grund, warum Patienten alternative Behandlungen um zumeist teures Geld aufsuchen - weil sie mit der Schulmedizin unzufrieden sind, weil der behandelnde Arzt ihnen zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit widmet, weil die Schulmedizin bei ihren Erkrankungen versagt hat. Sehr oft treiben der Leidensdruck und die Verzweiflung die Menschen in die offenen Arme von Quacksalbern und Scharlatanen, welche dann noch mehr Unheil statt Heil verursachen.

Es ist unbestritten, dass die Alternativmedizin heute boomt wie nie zuvor. Immer mehr Menschen fürchten sich vor schädlichen Nebenwirkungen der Schulmedizin und deren „bitteren" Pillen. Das Angebot an alternativen Therapien ist fast unüberschaubar geworden: Akupunktur, Homöopathie, Kinesiologie, Energetik, Chiropraktik, Kräuter- und Naturheilkunde, usw.

Jedes Jahr fließen Milliardenbeträge an Geld aus den Taschen leidender Patienten in jene von alternativen Heilern. Dieser Geldfluss wird heftig angetrieben durch eine entsprechende Werbung in den Medien. Daher wird die Frage nach einer unvoreingenommenen objektiven Überprüfung der Wirksamkeit von Heilbehandlungen immer wichtiger. Eine Antwort auf diese Frage liefert die moderne evidenzbasierte Medizin (EbM). Mit ihr schließt sich der Bogen, den schon vor über 2000 Jahren der griechische Arzt Hippokrates spannte:

Es geht in der Tat um zwei Dinge, die Wissenschaft und die Meinung. Erstere gebiert Wissen, Letztere hingegen Unwissen.

Die kritische Vernunft und die empirische Verifizierbarkeit sind die beiden unerlässlichen Prüf­steine unserer Wahrnehmung. In dem Buch „Trick or Treatment - Alternative Medicine on Trial" kommt Edzard Ernst zu dem ernüchternden Ergebnis, dass nur wenige alternative Heilmethoden einer objektiven wissenschaftlichen Prüfung standhalten. Beispielsweise die Akupunktur zur Bekämpfung von chronischen Schmerzen. Aus der Kräuter- und Naturheilkunde beispielsweise das Johannis­kraut zur Behandlung von Depressionen oder das Fischöl zur Vorbeugung gegen koronare Herz­erkrankungen. Auch ist die Wirksamkeit gesunder Ernährung und Lebensführung unbestritten. Diesen und anderen Beispielen steht eine Vielzahl von Heilmethoden gegenüber, welche - wenn überhaupt - nur als unspezifische Placebos wirksam sind. Eine spezifische Heilwirkung auf bestimmte Krankheiten kann bei ihnen nicht nachgewiesen werden.

So nützlich der Einsatz des Placebo-Effektes in der Medizin sein kann, so fragwürdig ist er aber auch. In letzter Konsequenz setzt er nämlich voraus, dass der Arzt den Patienten anlügt. Eine Placebo-Behandlung alleine entspricht nicht einer ehrlichen Arzt-Patienten-Beziehung und genügt nicht den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin. Placebos wandern auf dem schmalen Grat zwischen kleiner Notlüge und arglistiger Täuschung.

Zum Abschluss noch ein letztes Wort zu den so genannten alternativen Heilmethoden. In der langen Geschichte der Schulmedizin war jedes neue Heilverfahren einmal alternativ und musste sich gegen tradierte und alt eingesessene Überzeugungen durchsetzen. Zum Fortschritt in der Medizin braucht es ein delikates Gleichgewicht zweier gegensätzlicher Notwendigkeiten: Einer­seits der kritischen Haltung gegenüber neuen Hypothesen und andererseits aber eine große Offen­heit für neue Ideen. Wenn man nur ablehnend misstrauisch ist, dann verschließt man sich dem Neuen. Wenn man aber zu offen ist bis zur unkritischen Gutgläubigkeit, dann kann man die nützlichen von den wertlosen Ideen nicht mehr unterscheiden und wird zum willigen Opfer von Manipulationen. Es geht also um eine Ausgewogenheit zwischen begründeter Skepsis und innovativer Offenheit.
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